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Fluchtgepäck. Zurück zu sozialer Integrität

Feature | 12. November 2021

© sonare klang, kultur, literatur – Joachim Kubowitz

Emigrantenschicksale. Von der Dichtung beseelte Autor:innen wurden verjagt. Aus Deutschland, dem vermeintlichen „Land der Dichter und Denker“. Wer stand ihnen zur Seite? Was tat seinerzeit die Nachbarschaft? Endgültig verloren fühlt man sich, wenn man sich verlassen weiß …

Sonare veröffentlichte im Oktober 2021 „Sag mir, wo steht unser Mandelbaum? Im Fluchtgebäck die Sprache“. Das Album präsentiert vertonte Lyrik von Dichterinnen und Dichtern, die dem Druck von Politik und Straße ausgeliefert waren. Sie verließen ihre Heimat. Und mit der Heimat den Geltungsraum ihrer Muttersprache.

Das Schlimmste vermeiden
Das rettende Schiff? Das Cover des Albums, von Joachim Kubowitz gestaltet, zeigt das Foto eines Passagierschiffs in voller Fahrt – die RMS Scythia, mit der auch Stefan Zweig und seine Frau Lotte Europa hinter sich ließen –, unscharf und in rauchigen Farbtönen. Novembernebel. November, der Monat der „Reichspogromnacht“ von 1938: Aufgehetzter NS-Mob demonstrierte unheilvoll, welch skrupellose Gewalt sich an „Andersartigen“ in Deutschland entladen werde.

Wir brauchen visuelle Gesten, um fühlend zu verstehen. Der Leserichtung folgend, ist in unserer Kultur das noch Unbekannte, Neue, das Angestrebte auf der rechten Seite.
Das Schiff der Fliehenden bewegt sich im Bild nach links. Rückwärts. Rückzug. Flucht. Es geht nicht nach vorn. Emigration muss das Schlimmste vermeiden. Fortschritt ist kein Thema.

Vor dieser Foto-Szenerie steht filigrane Typografie, in feiner Farbigkeit: ein Blau und ein Grün, zart abgestimmt, jenseits dröhnender Klischee-Couleur. Lyrik lebt, kontrastierend zum drückend grauen Milieu.

Im inneren des Albums schwinden das Schattenhafte ebenso wie das Filigrane. Abstrakt erscheinende Umgebung in kräftiger, kalkig-kühler Farbe und geometrische Formen von rätselhaften Trichter- und Leitungssystemen besetzen das Bild: eine fremde Welt. Kein warmer Boden, um Wurzeln zu schlagen.

Nahe am Nichts
Deutsch war auch damals eine Fremd-Sprache, fast überall auf der Erde. Das Flüchtlingsschiff rettete das Überleben. Aber es ließ die erhoffte Zukunft der Schriftsteller:innen hinter sich.
In Deutschland wurden selbst Ikonen der internationalen Fachwelt zur Emigration genötigt, wie Thomas Mann und Berthold Brecht. Ihnen öffneten sich die arrivierten Salons auf allen Kontinenten.

Viele Schreibende, auch Größen der Literaturszene litten dennoch schwer am Ausgeschlossen-Sein, wie Egon Erwin Kisch. Viele fühlten sich nahe am Nichts. Fern der Sprachheimat, erstickten manche Literaten wie in einem Vakuum, und gingen elend zugrunde. Nicht wenige töteten sich selbst, so Kurt Tucholski, Stefan und Lotte Zweig, auch desillusioniert über das Zögern der Weltgemeinschaft.

Von niemandem erwartet
„Im Fluchtgepäck die Sprache“ bringt jene zur Sprache, die bei ihrer Emigration noch nicht in der Belle Etage der Literaturwelt angelangt waren. Viele verließen ihr Land als alltägliche Menschen, wie wir selbst welche sind. Ihre Lebenswelt ist uns vertraut. Das Einkaufen im Geschäft gegenüber, die Treffen mit Befreundeten in der Kneipe um die Ecke. In ihrer unmittelbaren Umgebung galten sie etwas; in anderen Ländern waren sie namenlos.
Die unbekannten Schriftsteller:innen erwartete kein Bett im Exil, kein Stuhl und schon gar kein Mensch. In ihrer neuen Umgebung waren sie zunächst mit ihrem Zungenschlag alleine, wie Rose Ausländer, Thomas Brasch, Hanns Eisler, Mascha Kaleko, Lessie Sachs. Und Hilde Domin:

„Unter unserem Rücken
ein Band von Betten,
unsere Betten in vielen Ländern,
im Nirgendwo der Nacht,
wenn rings ein fremdes Zimmer versinkt.“


„Wo steht unser Mandelbaum“, das Gedicht, aus dem diese Zeilen von Hilde Domin sind, war Inspiration für Joachim Kubowitz und bildet den Kern des gleichnamigen Albums. Er beschreibt es als „Ein poetisch-musikalisches Projekt mit Vertonungen von Autor:innen, die mit ihrer Muttersprache ins Exil gingen – für viele Jahre oder für immer“.

Auf dem Weg dazu begleiteten und unterstützten ihn ein Kreis geistesverwandter Musiker:innen: Bernd Spehl (Bassklarinette) und Lotta Corradini (Violine), Dagmar Hagmann (Gesang) sowie Sebastian Reimann (Violine), Christian Krebs (Cajon), Rainer Mike Walter (Gitarre, Keyboard), Michael Rayher (Piano) und Tim Isfort, der für die Tonaufnahmen und die Streicherarrangements verantwortlich war.

Die Empfindsamkeit des Komponisten und der Interpret:innen erreicht, dass Lyrik von einem klingenden Fluss getragen und nicht zur Begleiterscheinung der Musik verkleinert wird. Die Dichtung entfaltet sich, frei im Raum.

Musik wie aufmerksame Anteilnahme.

Ein sensibles Gesamtbild bietet ein Youtube-Film, der vor der Premiere im Urania Theater in Köln am 28.10.2021 entstand.

„Wirst Du mein Wort ein Weilchen für mich sprechen?“
Rose Ausländer vagabundierte früh durch die Welt. Sie geriet dann doch im heimatlichen Bukowina ins Ghetto der Judenverfolgung, zusammen mit Paul Celan. Sie überlebte es. In hohem Alter wurde sie eine weithin beachtete Schriftstellerin. Einsamkeit und Endlichkeit des Lebens waren ihr gegenwärtig, wie „Wenn ich vergehe“ ahnen lässt:

Wenn ich vergehe
wird die Sonne weiter brennen

Die Weltkörper werden sich
bewegen nach ihren Gesetzen
um einen Mittelpunkt
den keiner kennt.

Süß duften wird immer der Flieder
weiße Blitze ausstrahlen der Schnee.

Wenn ich fortgehe
von unserer vergesslichen Erde
wirst Du mein Wort ein Weilchen
für mich sprechen?


Rose Ausländers Worte werden bis heute gesprochen. Und gesungen. Sie ist eine von uns. Sie bleibt unvergessen.

Zurück zu soziokultureller Integrität
Das Schicksal der Nachbarinnen und Nachbarn geht alle an. Werteorientiertes Miteinander: So ist Soziokultur. Kollektive Untreue ist Verrat und schlägt bleibende Verletzungen, ins soziokulturelle Selbstverständnis: Wie sind wir? Was muten wir einander zu? Vertrauenswürdigkeit: Wie entsteht kollektives Selbst-Vertrauen? Haben wir den Mut, aufeinander zu bauen? Seit gut 75 Jahren sind wir an der Heilung der animalisch geschundenen Kultur.

Das Album von Joachim Kubowitz und seinen Musik-Partnerinnen und -Partnern spricht allen aus der Seele, denen vor dem damaligen Geschehen in unserer Heimat graut, denen das Schicksal der Bedrängten, Verfolgten, Getöteten unveränderlich nahe geht. Die anhaltende Anteilnahme ist ein Bekenntnis zu Humanität, und ein Zeichen bleibender Verbundenheit mit den Geschlagenen. Über ihren Tod hinaus.

So führt der sich windende Weg zurück zu soziokultureller Integrität, die das NS Regime in den Abgrund stürzte. „Im Fluchtgepäck die Sprache“ ist ein Beitrag dazu. Das Album zählt zu den Social Design-Arbeiten der sehr besonderen Art.


R. Habich

sonare.info
Das Album »Sag mir, wo steht unser Mandelbaum? Im Fluchtgepäck die Sprache« mit umfangreichem Booklet ist bei sonare klang, kultur, literatur erschienen und kann bei Joachim Kubowitz (info@sonare.info) für 18,– EUR inkl. Versand bezogen werden.
Das Album ist aber auch auf allen gängigen Plattformen digital downloadbar.