Wie viele Menschen mussten schon Sterben, weil keine Lehren aus der Spanischen Grippe gezogen wurden? Infektionsvermeidung spielt in der Gestaltung von Siedlungen und Städten keine Rolle. Video-Konferenzen sind Instrumente der Business-Koordination …
Corona. Die unberechenbaren Zyklen von Lockdown und Lockup untergraben längerfristige Orientierung und demoralisieren. Stress löst erhöhte Gewalt an Kindern und Frauen aus. Corona kostet, Tag für Tag, mehr als 1.000 Menschen das Leben. Zahllose Infizierte, die eine Infektion überlebten, leiden unter quälenden Langzeitfolgen. Nach Corona werden neue Pandemien folgen. Was tun?
An der Belastungsgrenze
Der Mensch: ein Spielball der Natur? Wir haben keine Chance?
Unser zivilisatorisches System ist prädestiniert, Viren und immer neue Mutanten rund um den Erdball zu verbreiten. In kürzester Zeit. Der seelische Druck, den die Seuche auf Bürgerinnen und Bürger ausübt, ist hoch.
Demokratien tun sich unter Pandemie-Bedingungen schwer, die Bevölkerung hinter sich zu sammeln. Die Geschlossenheit politisch entscheidender Instanzen scheint brüchig; auf Dauer destabilisiert dies auch Exekutiv-Organe des Staates.
Die Konsens-Kultur in unserem Land nähert sich den Grenzen ihrer Belastbarkeit. So wird das Klischee bedient, Demokratie sei ein Schönwetterverein, dem Notstandskompetenz und Führungsfähigkeit abgehe.
Gebot der Stunde!
Die Bekämpfung von Corona mit Impfstoffen und offenbar bald auch Medikamenten gelingt bisher erstaunlich gut. Corona ist allerdings ein vergleichsweise „harmloser“ Krankheitserreger, der Virologen seit langem vertraut ist. Die Forschung hat eine Vielzahl anderer Erreger im Blick, wie die Schweinepest, die auf den Menschen überspringen können und viel schwieriger zu bekämpfen wäre.
Die Belastung der Gesellschaft kann noch erheblich zunehmen. Es wird entscheidend werden, die sozialpsychologische Resilienz der Bevölkerung nachhaltig zu stärken. Zugleich wird es entscheidend, die Verbreitung aller Erreger – auch solcher, die wir noch nicht eliminieren können – zu verringern.
1. Verhinderung von Infektionen.
Pandemie-Prävention ist eine der entscheidenden Kompetenzen der Zukunftsgestaltung. Die Übertragung von Krankheitserregern jeder Art zu stoppen bzw. einzudämmen, muss hoch effizient und schnell realisierbar werden.
Corona erwischt uns auf dem falschen Fuß. Urbanität, Wohnungsbau und Usancen der Freizeitgestaltung, Industrie und Verkehrssysteme entstanden ohne Pandemie-Bewusstsein.
Alle Systemkomponenten unserer Zivilisation müssen durchleuchtet und hinterfragt werden: Überall, auf den Makro- wie auf den Mikro-Ebenen muss Infektionseindämmung ein Parameter zeitgemäßer Professionalität werden. Gestalterische Visionen zur Infektionsunterdrückung sind gefragt.
Bei Krankheitserregern, die über die Atemluft übertragen werden, sind die sensorische Erfassung des Luftraums in Gebäuden, die Gestaltung der Luftbewegung und die Alarm-initiierte gezielte Filterung der Luft bald so obligat wie heute Klima-Anlagen in warmen Ländern. Innenräume werden aerodynamisch gestaltet werden, um die Fraktionierung von Luftströmen und die punktgenaue Absaugung der kritischen Fracht zu unterstützen.
Außenbereiche werden mit Schutzeinrichtungen versehen, um sie bei jedem Wetter in allen Jahreszeiten als attraktive „Frischluft-Räume“ nutzen zu können. Mit entsprechendem Interior wird dafür gesorgt werden, dass attraktive Räume entstehen, die eben nicht als Notstandsbehelf erscheinen.
Corona wird über Aerosole übertragen, die Bekämpfung der Tröpfcheninfektion steht deshalb aktuell im Fokus. Die Ansteckung über Berührung wird die Schmierinfektion und den Kontakt mit Oberflächen ins Blickfeld rücken. Andere Formen, wie die Lebensmittelinfektion und die Infektion über Wasser erfordern eine ähnlich akribische Behandlung.
Systemische Infektionsverhinderung wird als Kompetenzfeld so elementar und selbstverständlich sein wie heute Brandschutz und Geräuschdämmung.
2. Gemeinschaft mit Soziokultur stärken.
Mit der Erkenntnis, dass die bestehende Systematik, den Erreger-Transfer zu minimieren, bei weitem nicht genügt, hat uns Corona überrascht. Dass Heime für alte Personen und Menschen mit Handicaps, selbst Krankenhäuser bei Lockdowns zeitweise zu Ghettos werden, bestürzt. Zum Schutz der Heimbewohnenden und Patienten sind heute kaum andere Möglichkeiten als fast totale Isolation gegeben.
Sogar Einrichtungen, die bestens für die Infektionsverhinderung konzipiert und ausgestattet sein müssten, sind genötigt, zu sozial destruktiven Maßnahmen greifen, um die Ansteckungsgefahren einigermaßen unter Kontrolle zu halten.
Sind alle strukturellen, organisatorischen, technischen und gestalterischen Optionen ausgereizt?
Erschütternd ist, wie weit unten auf der Prioritätenliste Soziokultur und die Förderung und Prävention zum Schutz der sozialen Interaktion in unserer – demokratischen – Gesellschaft steht. Seit Jahrzehnten. Was sagt das über die Soziale Nachhaltigkeit in unserem Land aus?
Ein Kurswechsel ist angesagt. Wissenschaftliche Prognosen besagen, dass zukünftig die Vielfalt der Erreger steigen und regionale Seuchen häufiger in globale Infektionsstürme expandieren. Es geht nicht nur gegen Corona: Pandemie ist der Gegner.
Auch gestalterische Innovationen sind notwendig, die – mit sozialverträglichen Mitteln – wirkungsvolle präventive Strukturen schaffen.
Zunächst ist die Kompensation von sozialen Einschränkungen, die grassierende Infektionen auslösen, systematisch zu optimieren. Wo persönliche Treffen real nicht vertretbar sind, müssen virtuelle Begegnungen eine qualifizierte Alternative bieten.
Auf diese Anforderung sind Zoom, Teams und alle anderen verfügbaren Programme nicht ausgerichtet, weder in ihrem Design noch in ihren Funktionalitäten. Business Communication ist ihr originäres Einsatzgebiet, prägt ihre Konzeption und begrenzt ihren „Social Impact“.
Was wird das Ergebnis sein, wenn die Soft- und Hardware darauf fokussiert wird, die Vermittlung von Spiel und Inspiration, von fröhlichen und ernsten Gedanken, von persönlichen Empfindungen und gemeinschaftlichen Gefühlen und Stimmungen zu unterstützen, sinnlich intensiv und auf immer wieder neue Weise?
Dieses Innovationsfeld hat eine immense Weite. Es wäre fatal, die Entwicklungsleistung allein bei der etablierten Industrie anzusiedeln: Sie arbeitet in Closed Shops und lässt das Publikum schon aus Wettbewerbsgründen nicht in die Karten blicken, die ihre Entwickler:innen spielen.
Expertenunternehmen sind nur eine Säule des Prozesses, aber nicht die einzige. Um die Bevölkerung an der innovativen Entwicklung zeitnah teilhaben zu lassen – nach der Devise: „Wir schaffen gerade Perspektiven“ – , sollten viele an dem Prozess mitwirken und zahlreiche Akteure mit Ideen und Lösungen die Öffentlichkeit ansprechen. Transdisziplinäre Projekte der Hochschulen wären dafür gut geeignet.
Darüber hinaus sind Impulsprojekte notwendig, die Inspirationen für die Erneuerung von Makrostrukturen geben. Dazu würden typische Gefahrenkonstellationen mit integralem Social Design in Angriff genommen werden, wie:
1) Nahestehende Personen sind infiziert. Wie kann eine „kommunikative Quarantäne“, die Nähe zulässt und dennoch Infektion verhindert, gestaltet werden?
2) Wirklich relevant sind wenige persönliche Begegnungen; die meisten Kontakte – auf der Straße zum Beispiel – sind in Krisenphasen verzichtbar. Mit welchen Mitteln kann die Beibehaltung der erwünschten Begegnungen und die Vermeidung der nicht beabsichtigten Kontakte erreicht werden?
3) Eine Wohnung ist zumeist auf Wohnbedürfnisse spezialisiert. Seit Corona soll die Wohnung kurzfristig auf die Erfordernisse eines Büros ausgerichtet werden.
Der schnelle Switch von „Normal-Status“ auf „Infekt-Alarm“ setzt hohe Anforderungen an die Veränderbarkeit der örtlichen Gegebenheiten voraus. Entsprechende Spontan-Wandlungen des Raums werden mit flexiblen Modulsystemen machbar: Im Handumdrehen werden wilde Menschenströme auf öffentlichen Wegen in konstante Stränge, die die Kontaktvielfalt reduzieren, kanalisiert, große Publikumsräume in Club-Zonen segmentiert, und im Wohnzimmer ein Büro-Zelt aufgeschlagen und nach Bedarf flugs wieder weggepackt.
Es geht auch um den Rückhalt der Demokratie in der Bevölkerung. Aus der Sicht der Bürger:innen verliert die Regierung ihre Legitimation, wenn es ihr nicht gelingt, das alltägliche soziale Miteinander zu verteidigen. Politiker:innen, die nicht alles unternehmen, um zum Beispiel die Begleitung von schwer kranken oder sterbenden Angehörigen unveränderlich zu erlauben, werden nicht als Helfende in der Not erlebt. Angela Merkel wurde das Versäumnis verziehen, aufgrund ihrer bewiesenen Integrität. Wen sonst schützt ein solches Charisma?
Die Herausforderung geht alle an. Die Politik darf nicht in den fatalen Fehler verfallen, den sie bei der deutschen Wiedervereinigung beging. Die westdeutsch geprägte Bundesregierung Kohl vermittelte den Bürger:innen in den neuen Bundesländern, die Generalsanierung und Umstrukturierung ihres Lebensraums werde für sie erledigt, fürsorglich von Mutter Staat. Dabei wäre für die Betroffenen kaum etwas so wesentlich gewesen wie die Gelegenheit, mit persönlichem Engagement am Wandel mitzuwirken und sich so als mündige Teilhaber des neuen Gemeinwesens zu etablieren.
Die Bekämpfung der Pandemie-Gefahren sollte als große Gemeinschaftsleistung organisiert und zelebriert werden. Für Gruppen und Personen, die sich durch herausragendes Engagement verdient gemacht haben, ist ein System der großen öffentlichen Anerkennung einzurichten.
Auch hier gilt es, soziokulturelles Versagen der politischen Elite zu vermeiden. Der schnöde Undank der politischen Führung gegenüber den Flüchtlingshelfenden 2015 – gut 900.000 Bürgerinnen und Bürger engagierten sich aufopferungsvoll! – darf nicht wiederholt werden. Partizipation geht anders. Die Voraussetzungen dafür sind heute besser denn je.
3. Integrale Leuchtturm-Projekte
Corona muss in absehbarer Zeit überwunden werden. Die noch größere Herausforderung ist: Es kommt darauf an, auf lange Sicht eine hohe systemimmanente Pandemie-Resilienz zu entwickeln.
Diese enorme Aufbauleistung kann nur in einer langfristigen, konzertierten Aktion von Staat und Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Forschung, Lehre und Administration gemeinsam gelöst werden.
Transdisziplinäre Kooperation und globale Vernetzung, die Kollaboration von Politik, Expert:innen mit Bürger:innen werden notwendig werden, um hochwertige Ergebnisse zu erreichen und zügig in die Praxis umzusetzen.
Zugleich müssen integrale Maßnahmen zur Bändigung der Pandemie-Risiken auch als Leuchtturm-Projekte der Öffentlichkeit nahegebracht werden. Die Bevölkerung will endlich die Überwindung von Kleinmütigkeit erleben: Entschlossenes Aufbäumen gegen Bedrohung macht Mut und stärkt Geduld und Glauben an die Entwicklung zum Besseren.
Haben wir eine Wahl?
Die Spanische Grippe zog zwischen 1918 und 1920 eine Spur von Tod und Verderben rund um den Erdball, 40 Millionen starben.
Die aktuelle Corona-Pandemie hat 5,4 Millionen Menschen das Leben genommen, davon mehr als 110.000 in Deutschland. Wie viele Personen könnten noch leben, wenn man seither konsequent Lehren aus der Spanischen Grippe gezogen hätte?
Es ist an der Zeit, große Weichen zu stellen.
R. Habich