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Rascher Neustart des sozialen Lebens

Beitrag | 4. Oktober 2022

In der aktuellen Studie bewertet erstmals eine Mehrheit den Zusammenhalt in der eigenen Wohn­gegend skeptisch: 2019 – Zusammenhalt gut oder sehr gut: 80 %; 2022 – Zusammenhalt gut oder sehr gut: 47 %

Forscher der Bertelsmann-Stiftung haben mit Unterstützung des Sozialministerium Baden-Württemberg die Entwicklung des sozialen Zusammenhalts im Ländle untersucht. Die Folgen von Corona für die Gemeinschaft sind problematisch …

Vertrauen in den Zusammenhalt nimmt ab
Einen so starken Schwund an Vertrauen in den Zusammenhalt in so kurzer Zeit haben die Sozialwissenschaftler nach eigenem Bekunden hier bisher noch nicht registriert. Die gesamte Gesellschaft im Blick, empfehlen sie die Einrichtung von „Dialogformate(n) und Begegnungsorte(n), um das verloren gegangene zwischenmenschliche Vertrauen wieder aufzubauen, ebenso wie die Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen, um möglichst rasch einen Neustart für das soziale Leben in den Kommunen zu erreichen.“

Ebenso sollen jene gesellschaftlichen Gruppen intensivere Unterstützung erfahren, die von der Krise besonders betroffen sind, wie Alleinerziehende, chronisch Kranke, Menschen mit geringerer Bildung oder geringem Einkommen.

Mit dem Rücken zur Wand
Sogar im persönlichen Wohnumfeld, in dem das Miteinander bisher sehr positiv erlebt wird, sind die Werte bzgl. des Zusammenhalts von 80 % auf 47 % abgestürzt – seit dem 2. Corona-Jahr. Im 1. Corona-Jahr war das Vertrauen in den lokalen Zusammenhalt noch gewachsen!
Im sozialen Nahbereich festigen Menschen ihre mentale Mitte, hier regenerieren sie ihre seelische Resilienz gegen verunsichernde Entwicklungen und Ängste. Ohne diesen ausgleichenden Rückzugsraum fühlen sich Menschen verletzlicher: mit dem Rücken zur Wand.

Zuhause?
Die Tendenz zur sozialen Entwurzelung spiegelt sich in den Umfrageergebnissen zur Identifikation mit dem Wohnort. Sie ging um 20 % zurück, von 81,7 % auf 61,7 %. Annähernd 40 % empfinden den Ort, an dem sie wohnen, nicht mehr als ihr Zuhause. Innerhalb von drei Jahren hat sich die Zahl derer, die sich mit ihrem Wohnort nicht identifizieren, verdoppelt.

Gesellschaftsweite Perspektive
Vor diesen extremen Verlusten erscheint es fast harmlos, dass „nur“ weitere 10 % der Befragten in Baden-Württemberg den Glauben an den Zusammenhalt in der Gesellschaft insgesamt verlieren. 2019 hatten noch 63,8 % Zutrauen in den Zusammenhalt. 2022 glauben nur noch 53,7 % an das Miteinander. Kaum mehr als die Hälfte der Bevölkerung: „Die Hälfte“ ist in einer Demokratie ein kritischer Wert.

Überregionale Gültigkeit
Die in Baden-Württemberg ermittelten Werte sind in sämtlichen Regionen des Bundeslandes sehr ähnlich. Die Einschätzungen der Bürger:innen decken sich, unabhängig vom Wohnort.

Die Wissenschaftler heben zudem hervor, dass die Ergebnisse auf ganz Deutschland übertragbar sind. Die Übereinstimmungen mit anderen sozialwissenschaftlichen Studien sprechen dafür.
So veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung im Februar 2022 die bundesweit erhobene Befragung „Erschöpfte Gesellschaft“. Die Untersuchung in ganz Deutschland ergab u.a.:

  • 2020, im ersten Corona-Jahr, meinten lediglich 21 % der Bevölkerung, die Menschen würden sich nicht umeinander kümmern.
  • Heute teilen 59 % diesen Eindruck.
  • 28 % der Personen in Deutschland sagen inzwischen sogar, man könne sich auf niemanden verlassen.

Negative Trendumkehr – innerhalb von 24 Monaten
2020, im ersten Corona-Jahr, war noch eine Welle nachbarschaftlicher Anteilnahme und Solidarität durch das Land gegangen, wie wissenschaftlich belegt ist. Seinerzeit verbesserten sich nahezu alle Werte rund um den gesellschaftlichen und mitmenschlichen Zusammenhalt signifikant.

Innerhalb von 24 Monaten hat sich dieser Trend ins Gegenteil verkehrt. Deutlich wird das an der Entwicklung des Vertrauens der Bevölkerung in die Bundesregierung und staatliche Institutionen: Im Februar 2020 bekundeten laut der Bertelsmann-Stiftung 24 % der Befragten ihr Vertrauen in die Regierung. Im Sommer desselben Jahres war der Wert auf 45% erhöht! Aber bis Februar 2022 sackte er auf 18 % ab – ein Verlust von 3/5 in zwei Jahren.

Vieles spricht dafür, dass die Devise „Social Distancing“, welche die Bundesregierung in 2020 zur Rettung in großer Not ausgab, die Entfremdung zwischen weiten Teilen der Bevölkerung und den Regierenden beschleunigt hat.

Viele Menschen verzweifelten an den Social Distancing-Regeln. Menschlich besonders hart waren sie für jene, die Angehörige hatten, die im Krankenhaus oder in einem Heim waren und die sie kaum mehr besuchen durften. Selbst wenn sie im Sterben lagen, mussten sich die meisten Familienmitglieder fern von ihnen halten und ihnen den Abschied verwehren.

Auch Bürger:innen, die nicht selbst davon betroffen waren, aber an der mitmenschlichen Not ihrer Freunde oder Bekannten Anteil teilnahmen, empfanden die Vorschriften und deren Verfasser als technokratisch und kaltherzig.

Zur Identifikation mit dem persönlichen Wohnort bekannten sich 2019 noch 81,7 %; in der Befragung 2022 waren es nur noch 61,7 % – 20 % weniger. Quelle: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in BW / Bertelsmann Stiftung 2022/05.

Zuständig für den sozialen Zusammenhalt
Dass physische Nähe zur Vermeidung von Infektionen verringert werden musste und Distanz-Gebot notwendig war, ist ein Fakt.

Dass jedoch die Regierenden in Bund und Ländern nicht in der Lage waren, ihre Empathie für die psychosozialen Belastungen der Bevölkerung überzeugend zum Ausdruck zu bringen, beeinträchtigt das Vertrauen Vieler in die führenden politischen Parteien.

Noch problematischer ist wohl, dass sich die politisch Verantwortlichen öffentlich eben nicht zu ihrer Zuständigkeit für den sozialen Zusammenhalt bekannten.

Kämpferische Gesten im Sinn von „Wir geben die Gemeinschaft und das Miteinander nicht auf“ wären eine Bestärkung für die Bürger:innen gewesen. Worte allein hätten nicht genügt, sozial verbindende Taten und Maßnahmen, die dem Versprechen Glaubwürdigkeit verleihen, waren gefragt.

Rückzug aus dem sozialen Nahbereich
Das Social Distancing-Dilemma kann auch den rapiden Einbruch des Zusammenhalts im Haus, im Quartier, im Straßenzug erklären. Dieser soziale Nahbereich bildet das Herzstück des gesellschaftlichen Miteinanders.

Bürgerinnen und Bürger verinnerlichten Social Distancing als ein Muss, das zum Selbstschutz und aus mitmenschlicher Rücksichtnahme geboten ist: Es ging (oder geht) um Leben oder Tod. Sie setzten den moralischen Appell weitgehend getreulich um.
Der überwältigende Enthusiasmus des Helfens, der 2020 noch prägte und das Aufkommen düsterer Katastrophenstimmung verhinderte, verflog in kurzer Zeit.

Die Bürger:innen fühlten sich bei zufälligen Begegnungen unwohl und zeigten Verunsicherung, sie reduzierten ihre nachbarschaftlichen Kontakte und setzten viele ihrer sozialen Routinen aus.

Bald war es offensichtlich: Die Intensität des Miteinanders löste sich in Kürze auf.

Der Drift in die Vereinzelung, der in Konsumgesellschaften ohnehin ein Problem ist, wird stärker. Die Mikro-Parzellierung in Kleingruppen, die sich aus dem gesellschaftlichen Konsens zurückziehen und z.T. Verschwörungsvorstellungen anhängen, nimmt zu.

Neustart des sozialen Lebens
Die Bürger:innen registrieren sehr klar die prekäre Situation der Gesellschaft. Die Politik solle den Zusammenhalt stärken und entschiedener gegen die Spaltung der Gesellschaft vorgehen – diese Meinung vertreten 70 % der Bevölkerung (IfD Allensbach, 22/02) in Deutschland.

Soziale Routinen, die eine Weile ausgesetzt wurden, springen nicht wieder an, nur weil die Blockaden entfernt werden. Sie müssen neu eingespielt werden.

Die Verfasser der Studie BW Zusammenhalt 2022 empfehlen: Der Neustart des sozialen Lebens in den Kommunen muss rasch gelingen. So kann das verloren gegangene zwischenmenschliche Vertrauen wieder aufgebaut werden.

Als Mittel der Wahl benennen sie vor allem die Einrichtung von Dialogformaten und Begegnungsorten, sowie die Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Clubhaus der Zivilgesellschaft
Das Forum für Entwerfen e.V. geht noch etwas weiter: Die Initiative für soziokulturelle Gestaltung plädiert dafür, die Zivilgesellschaft so nachhaltig zu stärken, dass sie dauerhaft die gesunde soziale Interaktion in der Gesellschaft beleben und intensivieren wird. Die Konzeption „Clubhaus der Zivilgesellschaft“ ist ein wesentlicher Schritt zu diesem Ziel.

FfE 22/10  R. Habich